8

DIE SASSI UND DER PARK DER FELSENKIRCHEN VON MATERA

icona patrimonio sito UNESCO
WELTKULTURERBE
DOSSIER UNESCO: 670
VERLEIHUNGSSTADT: CARTAGENA, KOLUMBIEN
VERLEIHUNGSJAHR: 1993
BEGRÜNDUNG: Die Sassi und der Park der Felsenkirche von Matera sind ein einzigartiges Beispiel für Felsensiedlungen, die perfekt an den geomorphologischen Kontext und das Ökosystem angepasst sind und seit über zweitausend Jahren existieren.

„Diese umgekehrten Kegel, diese Trichter, heißen Sassi:
Sasso Caveoso und Sasso Barisano. Sie haben die
Form unserer Vostellung von Dantes Hölle, als wir in
der Schule waren. Und auch ich begann den Abstieg
entlang einer Art eines Saumpfades, von Kreis zu
Kreis, nach unten. [...] In diesem engen Raum zwischen
den Fassaden und dem Hang verlaufen Straßen und
sind gleichzeitig Böden für die oberen und Dächer für
die unteren Häuser.“

Christus kam nur bis Eboli, Carlo Levi

Besichtigt man heute Matera, dann macht man gleichermaßen eine kulturelle und eine anthropologische Erfahrung. Seit 1935 – dem Jahr, in dem Carlo Levi die Stadt besuchte und seine Eindrücke schilderte – scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein. Von einem, wie Palmiro Togliatti sagte, Ort der „nationalen Schande“ wurde Matera zu einem absoluten Muss in der modernen Bildungsreise, zur Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2019, zu einem begehrten Schauplatz für Filme und Fernsehserien und ist heute das Symbol einer Erlösung, die in Italien ihresgleichen sucht. Bevor sie nach dem Krieg in moderne Unterkünfte umgesiedelt wurden, lebten Tausende von Bürgern und Bürgerinnen der Stadt Matera unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen mit Tieren zusammengepfercht in feuchten, stinkenden Höhlen. Die Sterblichkeitsrate von Kindern war sehr hoch. Der Weg hin zu einer Modernisierung war lang, trug aber Früchte (um ehrlich zu sein hatten sich viele Regisseure, von Pier Paolo Pasolini bis hin zu Mel Gibson bereits von einer der ältesten Städte der Welt verzaubern lassen). Seit mehr als zwei Jahrtausenden beherbergen die Schluchten ohne Unterbrechung ihre Bewohner in natürlichen oder künstlichen Unterkünften: ein außergewöhnliches Stadtbild, das aus Höhlenwohnungen, Felsenkirchen und unterirdischen Regenwasserzisternen besteht, während an der Oberfläche Kultstätten und Paläste stehen.

NICHT ZU VERPASSEN

„Als ob sie sich im Laufe der Zeit verdichtete und zu Materie wurde, ist die Stille genau das, woraus die Rinnen von Craco bestehen [...], der Tuff der Sassi di Matera [...]. Die ganze Basilikata besteht aus dieser immateriellen Substanz, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ihre Bewohner, wenn sie zu sprechen beginnen, manchmal nicht mehr aufhören. Schweigen kann einen in den Wahnsinn treiben.“

Um sich dem modernen Matera und dem Charakter seiner Bewohner anzunähern, empfiehlt sich nichts Besseres als die (bisher) 4-bändige Kriminalreihe Come piante tra i sassi von Mariolina Venezia mit der Staatsanwältin Imma Tataranni als Hauptfigur.
Google Maps
Ein Besuch in Matera beginnt an zwei Punkten. Vom Aussichtspunkt
1
Murgia Timone hat man einen atemberaubenden Blick auf die „Krippenstadt“. Die Hochebene ist das Herzstück des Parks der Felsenkirchen von Matera, ein Lebensraum, den die vielen tausende von Jahren und der Fluss des Wassers formten und in dem es zahlreiche Spuren von früheren menschlichen Besiedlungen gibt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht kann man in der Stadt am Aussichtspunkt auf der
2
Piazza Vittorio Veneto die besondere urbane Struktur Materas erkennen: Im Süden erstreckt sich das einem Amphitheater ähnelnde Stadtviertel
3
Sasso Barisano. Auf dem höchsten Hügel thront der
4
Dom. Das Meisterwerk apulischer Romanik gleicht einer Schatztruhe: Fresken aus dem 13. – 14. Jh., bemalte Kapitelle, Renaissance-Skulpturen und eine üppige Verkleidung aus dem 18. Jh. Im Herzen des Viertels befindet sich die Chiesa di San Pietro Barisano, die fast vollständig in Fels gehauen ist. Eines der historischen Stadtviertel Materas ist
5
Sasso Caveoso: Um dorthin zu gelangen, geht man am besten über die überwältigende Via Buozzi, von der aus man einen guten Ausblick hat. Hier sind typische Beispiele für sogenannte „Nachbarschaften“ konzentiert – Häuser, die auf denselben geschlossenen Hof ausgerichtet sind – und mehrere Felsenstätten: Fabelhaft ist der Rundblick auf die zum Teil in den Felsen gegrabene Kirche Santa Maria de Idris und die durch einen Stollen mit ihr verbundenen Kirche San Giovanni in Monterrone, mit wertvollen Fresken. Und dann gibt es noch die Chiesa di San Pietro Caveoso die gefährlich nah an der Schlucht steht. Am Ende des Rundgangs darf
6
Il Piano nicht vergessen werden, das Viertel, das angelegt wurde, da Matera als Hauptstadt der Region nominiert wurde (1663), aber auch um dem Bevölkerungszuwachs gerecht zu werden. Die Gegend hat viele Sehenswürdigkeiten, wie den Palazzo del Sedile, doch insbesondere gibt es einige sehr schöne Gotteshäuser, wie die Chiesa di San Giovanni Battista mit ihren kostbaren romanischen Formen aus dem 13. Jh. und der prächtigen Barockkirche San Francesco. Es empfiehlt sich im Museo Nazionale d’Arte Medievale e Modernaim Palazzo Lanfranchi Carlo Levi zu gedenken: Das sehr lange Bild Lucania ’61 ist ein Geschenk des Künstlers an den Dichter Rocco Scotellaro sowie an diese Stadt und ihre Region.

„Häuser sind Steinblumen. Häuser so klein
wie Bienenzellen. Tuffsteinkristalle. Ein
steinernes Spinnennetz, in dem Menschen und
Tiere standen und mit ihrem Atem gegen die
Feuchtigkeit ankämpften, die von unten kam.
Eine Landschaft aus Falten und Runzeln. Ein
Sumpf aus Rauch und Schlamm im Winter
und Lehm im Sommer, Lehm und Staub,
Spalten, Schlamm. Jetzt, ohne den Rauch, ohne
die Abwässer der Geschichte, erscheint der
Tuffstein sauber, dem Schleier beraubt, den die
Zeit und ihre Bewohner über ihn gelegt hatten.“

Geografia commossa dell’Italia interna, Franco Arminio

Franco Arminio, der große moderne Dichter, der über Dörfer und Städte schreibt, die „am Rand“ stehen, liest Matera durch die Ästhetik der Armut. Auch wenn diese Vergangenheit heute nicht mehr sofort sichtbar ist, so ist sie doch noch bei jeder Gelegenheit zu erkennen. Für einen Besuch in Matera sollte man sich Zeit nehmen, denn unter der Fassade einer touristischen Vorzeigestadt verbirgt sich eine tiefe Seele mit vielen Schichten, die denen der Sassi sehr ähnlich sind.

Hör dir die Podcasts an

Die italienischen UNESCO-Welterbestätten erzählen ihre Geschichte durch die Worte großer Schriftsteller, die ihre Geschichte und Schönheit gefeiert haben

Hör dir alle Episoden an

FÜR DIE JÜNGSTEN

HUNDERTE VON HÄUSERN, FAST ALLE AUS WEISSEM STEIN, REIHTEN SICH AN DEN UMRISSEN EINES STEILHANGS AUF. ES SAH AUS WIE EIN GROSSES PUZZLE AUS RÖTLICHEN DÄCHERN UND WEISSEN FASSADEN, DURCHBOHRT VON LEEREN FENSTERN. DAS GANZE ERWECKTE DEN EINDRUCK EINES ORGANISIERTEN CHAOS, […] DAS SEINEN EIGENEN GESETZEN GEHORCHTE.“
attività per bambini del sito UNESCO nr. 8
Schaut Euch Matera vom Aussichtspunkt so an, wie es Licia Troisi in ihrem Buch L’ultima battaglia. beschreibt. Die Stadt ähnelt vom Aussichtspunkt
1
Murgia Timone einem seltsamen Bienenstock aus Stein. Der Hügel vor Euch ist voller Löcher und die Häuserfassaden sind es auch. Vor sehr langer Zeit wohnten die Menschen in diesen Höhlen und auch die Rötelfalken flüchteten in die Hohlräume zwischen den Steinen. Haltet die Augen gut offen und Euer Fernglas bereit: Wenn Ihr auf der
2
tibetischen Brücke den Wildbach überquert, könntet Ihr einen Rötelfalken sehen. Wenn Ihr die Stadt auf der anderen Seite der Schlucht erreicht habt, dann nehmt Euch etwas Zeit, um mehr über die Geschichte der Stadt zu erfahren. Fangt mit der jüngsten Geschichte an. In der
3
Casa Grotta del Vicinato werdet Ihr sehen, unter welch harten Bedingungen die Menschen leben mussten. Ja, sie waren sogar gezwungen, ihre armseligen Wohnungen mit ihrem Vieh zu teilen. Matera ist eine sehr alte Stadt: Das könnt Ihr insbesondere im kleinen, aber außergewöhnlichem
4
Museo Racconti in Pietra sehen, in dem man eine Zeitreise in die Vergangenheit zu Dinosaurierfossilen und 3D-Rekonstruktionen macht. Wenn Ihr aber Giuliana kennenlernen wollt, dann begebt Euch in das
5
Nationale Archäologische Museum Domenico Ridola. Wer ist Giuliana? Es handelt sich um den Wal, der 2006 am Ufer des Lago di San Giuliano nur wenige Kilometer von hier entfernt, entdeckt wurde. Diese „Dame der Abgründe“, die etwa vor eineinhalb Millionen Jahren lebte, wog mehr oder weniger 150 Tonnen und war 26 m lang: Somit handelt es sich um das größte Lebewesen, das je durch das Mittelmeer schwamm. Im selben Museum sind zwei fantastische Rekonstruktionen einer Höhle und einer Hütte aus der Jungsteinzeit zu sehen. Es ist nun der Moment gekommen, um unter die Erde zu gehen. Nachdem Ihr auf der Piazza Vittorio Veneto die Aussicht genossen habt, geht Ihr die Stufen zur Zisterne
6
Palombaro Lungo hoch: Ihr werdet eine umgekehrte Welt unter der Erde entdecken. Es ist mehr als verständlich, dass Ihr nach diesen vielen Eindrücken etwas müde seid. Steigt in ein Ape Calessino und fahrt etwas durch die Stadtviertel, die Sassi. Diese faszinierenden Steinlabyrinthe und Träume heißen Barisano und Caveoso. Sie sind die beiden historischen Stadtviertel von Matera. Besucht, bevor Ihr geht, noch den
7
Skulpturpark La Palomba, eine alte Höhle, in der wie aus Zauberhand sehr beeindruckende zeitgenössische Kunstwerke hängen.
sito UNESCO nr. 8 in Italia
LESEEMPFEHLUNGEN

Buchempfehlungen um die Stadt der Sassi kennenzulernen.

  • Christus kam nur bis Eboli, Carlo Levi (1945). Ein unverzichtbarer Klassiker, um die Basilikata und Matera kennen zu lernen. Der Schriftsteller, Arzt und Maler Levi hat in seiner Verbannung die Gesellschaft der 30er Jahre auf bis heute unübertroffene Weise beschrieben und der Nachwelt hinterlassen.
  • Come piante tra i sassi(2009), Maltempo(2013), Rione Serra Venerdì(2018), Via del Riscatto(2019), Ecchecavolo(2021), Mariolina Venezia. Die Bücher, in denen es um die Staatsanwältin Imma Tataranni geht, sind ein witziger und äußerst aktueller Querschnitt durch Matera und die Basilikata. Die Bücher wurden von der RAI mit großem Erfolg verfilmt.
  • Giardini di pietra, Pietro Laureano (2012). Das Buch ist eine eingehende Studie über die ausgegrabene oder gebaute Steinarchitektur, die Matera und viele andere Orte im Mittelmeerraum charakterisiert und ein Element der starken Identität der Stadt darstellt.
  • Geografia commossa dell’Italia interna, Franco Arminio (2013). Der Schriftsteller aus der Region Kampanien beschreibt die italienischen Dörfer und geht hier von den Emotionen aus, die Mensch und Natur in ihm auslösen.
  • Guida indipendente alla città di Matera, Simonetta Sciandivasci (2018). Auf eine frische Art erzählt sie vom noch unentdeckten unterirdischen Matera. Mit schönen Illustrationen von Marta Pantaleo eignet sich der Reiseführer für etwas forderndere „Forscher“.
  • La ballata dei sassi, Carlos Solito (2018). Zwei Schicksale kreuzen sich in der Stadt der Steine. Ettore, ein geheimnisvoller Schriftsteller, kehrt nach vielen Jahren in seine Heimat zurück und sät seine Verse in den Wind. Maria macht es sich zur Aufgabe, diese in einer poetischen Schatzsuche einzusammeln.
  • Andare per Matera e la Basilicata, Eliana Di Caro (2019). Die Journalistin aus Matera führt die Leser durch die Stadt und die gesamte Region. Dabei nimmt sie die Persönlichkeiten mit, die das Bild von Matera und der Basilikata maßgeblich mitbeeinflusst haben: Carlo Levi, Pier Paolo Pasolini, Giovanni Pascoli und viele mehr.
  • Matera. Le radici e la memoria, Francesco Niglio (2019). Mit diesem Werk entdecken wir das bäuerliche, das pastorale Matera und das Matera des Handwerks der 50er und 60er Jahre, das noch weit vom immer näher rückenden internationalen Rampenlicht entfernt ist.

Kinder- und Jugendliteratur:

  • L’ultima battaglia, Licia Troisi (2012). Das fünfte Buch der Saga La ragazza drago enthält auch ein Kapitel, das in Matera spielt: eine der Etappen, zu denen die Hauptfiguren gehen, um Bruchstücke der Thuban-Frucht zu finden.
  • Matera 21 settembre 1943, Pino Oliva (2014). Matera war die erste Stadt in Süditalien, die sich gegen den Nazifaschismus stellte. Diese schöne graphic novel ist den Geschehnissen jener dramatischen Tage gewidmet, die durch den Historiker Francesco Ambrico rekonstruiert wurden.
  • Il licantropo di Matera (2020). Die Sassi mit ihren Gassen und dem ihnen innewohnenden Geheimnis sind die ideale Kulisse für diese Horrorgeschichte mit Wolfsmenschen und Vampiren aus der Dampyr-Comicserie.
  • Pimpa va a Matera, Altan (2022). Der gepunktete Hund wandert durch die Stadt der Sassi und entdeckt dabei in den Fels gehauene Kirchen, uralte Traditionen und märchenhafte Aussichten.
  • Topolino e il segreto dei Sassi (2022). In dieser Mickey Maus-Ausgabe ist Matera die Hauptort. Die berühmteste Maus des Comics macht sich von Texas aus auf den Weg in die Stadt der Sassi, um den Entführungsfall von Onkel Rocco zu lösen.
mockup libro patrimonio sito UNESCO

Laden Sie das digitale Buch herunter und entdecken Sie die 60 UNESCO-Welterbestätten Italiens durch die Worte berühmter Autoren der italienischen und weltweiten Literatur.

  EINZELNES KAPITEL PDF   VOLLSTÄNDIGES BUCH PDF   VOLLSTÄNDIGES BUCH EPUB